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Exposition von Flechten im Botanischen Garten Oldenburg

Am 27.06.2020 begann die Exposition von Flechten im Botanischen Garten. Angelehnt an eine VDI-Richtlinie (VDI 3957, Blatt 21) handelt es sich um ein Bioindikationsverfahren zum Nachweis von Luftverunreinigungen. Dieses Experiment wurde gestartet, um die Wirkungen insbesondere der Stickstoffimmissionen im zentrumsnahen Botanischen Garten Oldenburgs zu erfassen.

Die nachfolgenden Fotos zeigen in chronologischer Folge von ca. 4 - 6 Wochen die Entwicklung der Flechten.

Flechtenexpositionstafel

27.06.2020: Ausgangssituation der Flechtentafel mit Blasenflechte (8 Lager links) und Schüsselflechte (7 Lager rechts). Auf einigen Borkenstücken kleine Lager weiterer Arten mit indifferentem Verhalten gegenüber Luftverunreinigungen. Die relativ empfindliche Blasenflechte (Hypogymnia physodes) weist leichte Verfärbungen auf, ist aber ebenso wie die weniger empfindliche Schüsselflechte (Parmelia sulcata) weitgehend vital.

Flechtenexpositionstafel

25.07.2020: Fast alle exponierten Flechtenlager erscheinen sehr vital. Weder Verfärbungen noch Absterbeerscheinungen deuten auf Immissionen hin, welche die Flechten innerhalb von nur 4 Wochen geschädigt haben könnten (eine Situation, die in den 1970er Jahren an einigen hochbelasteten Orten im Ruhrgebiet anzutreffen war!). Dies betrifft beide Arten: die empfindlichere Blasen-Flechte (links) und die unempfindlichere Schüssel-Flechte (rechts). Vereinzelte Fehlstellen an den Rändern einiger Borkenstücke resultieren aus Ablösungen loser Flechtenlager. Sie sind eine Normalerscheinung in den ersten Monaten der Exposition. Die Schädigung eines winzig kleinen Lagers etwa im Zentrum des Bildes ist ebenfalls nachvollziehbar: hier landete irrtümlich ein Tropfen Klebstoff zur Befestigung des Borkenstückes.

Flechtenexpositionstafel

21.08.2020: Nach einer Expositionsdauer von insgesamt 8 Wochen zeigen die Flechtenlager im Botanischen Garten weiterhin keine Schadsymptome. Die in den Sommermonaten allgemein geringe Luftschadstoffbelastung spiegelt sich noch in einer sichtlich guten Vitalität der Flechten wider. Auch durch andere Ursachen (Mensch, Tier) hervorgerufene Schädigungen sind glücklicherweise ausgeblieben. Leichte Farbabweichungen zwischen den Fotos entstehen durch die abweichenden Lichtverhältnisse während der Aufnahmen und die Verwendung unterschiedlicher Digitalkameras. Durch Immissionen verursachte Farbveränderungen (Verbraunung, Ausbleichung) bleiben dennoch deutlich erkennbar.

Flechtenexpositionstafel

17.09.2020: Während die Schüssel-Flechte (auf der Tafel rechts, siehe Ausgangsbild vom Juni 2020) nach 3-monatiger Exposition noch weitgehend unversehrt ist, weisen einige Lager der Blasen-Flechte (linke Hälfte), leichte Verbraunungen auf. Kleinere Löcher und verschwundene Sorale sind vermutlich auf Schnecken- oder Insektenfraß zurückzuführen. Vor allem die Verfärbungen können als Folge von Immissionseinwirkungen gedeutet werden, wodurch die sensible Symbiose zwischen Alge und Pilz gestört ist und sich zunächst das algenreiche Gewebe verfärbt.

Flechtenexpositionstafel

11.11.2020: Dieses Mal zeigen sich wenige optische Veränderungen an den Flechten. Das Erscheinungsbild einiger Lager der Blasenflechte (linke Hälfte) hat sich nicht weiter verschlechtert - im Gegenteil, kleinere Lagerteile mit Fraßschäden und Farbveränderungen haben sich offenbar regeneriert. Lediglich das 2. Lager links unten weist immer noch farbliche Anomalien auf. Die Lager der Schüsselflechte rechts sind unverändert vital, einige Ränder sind bereits über das Borkenstück hinaus auf die Tafel gewachsen.

Flechtenexpositionstafel

21.12.2020: Gegenüber der letzten Aufnahme hat sich der Zustand der meisten Flechtenlager nicht wesentlich verändert. Die Symptome der beiden Lager, die schon im September auftraten (Blasenflechte ganz links, und 2. unten links) haben sich weiter verstärkt. Wahrscheinlich sind sie die Folge der Transplantation (Entnahme vom natürlichen Wuchsort, Transport, Lagerung, Befestigung) von denen generell ca. 30% der Flechtenlager betroffen sind und in den ersten 2 bis 3 Monaten in Erscheinung treten (siehe VDI-Richtlinie 3957, Bl.21). Immissionen scheinen – anders als zuvor angenommen – nicht die Ursache dafür zu sein. Die übrigen Lager der Blasenflechte und der Schüsselflechte zeigen nach nunmehr 6 Monaten Exposition fast keine Anomalien.

Flechtenexpositionstafel

03.03.2021: Nach über 2 Monaten stellen wir das erste Update der Flechten für 2021 vor. Es waren nicht nur Kälte und Schneebedeckung, auch die geringen Unterschiede zur letzten Aufnahme waren Anlass für die verzögerte Dokumentation. Die Blasenflechte (links) weist dennoch - in der Web-Darstellung leider kaum erkennbar - bei fast allen Lagern eine leicht zunehmende Verbraunung einiger Loben auf. Betroffen ist ein Flächenanteil von unter 5%. Bei dem Lager ganz links und dem 2. Lager von links unten schreiten die farblichen Veränderungen etwas stärker voran, hier treten mittlerweile leichte Absterbeerscheinungen hinzu. Dagegen sind die Lager der Schüsselflechte (rechts) immer noch weitgehend unversehrt. Sie zeigt ein deutliches Wachstum; anfangs kleinste Lager treten nun auch zwischen der Blasenflechte in der linken Bildhälfte hervor. Nicht irritieren sollte die zunehmende Lücke über der Schüssel-Flechte oben rechts. Hier hatte sich bei der Entnahme der Borkenstücke (von einer umgestürzten Linde) die sehr ähnlich aussehende Grauschüssel-Flechte eingeschlichen. Das schon zu Beginn stark beschädigte Exemplar scheint langsam abzusterben. Auch andere blinde Passagiere sind erkennbar. Auf die gehen wir später noch genauer ein.

Flechtenexpositionstafel

12.05.2021: Das Virus erlaubte uns endlich wieder den Besuch des Botanischen Gartens. Hinter den Toren des Gartens die Zier- und Wildpflanzen in voller Blüte. Das können die Flechten auf unserer Expositionstafel (und anderswo) nicht - woher sollten sie auch ohne Wurzeln für eine solche verschwenderische Pracht die Energie hernehmen, sie reicht gerade zum Überleben. Und wie sich nach der letzten Besichtigung nun zeigt, gelang es ihnen unter den unwirtlichen Bedingungen der Wintermonate offensichtlich ganz gut. Niedrige Temperaturen und gelegentliche Niederschläge sind günstig für Flechten, die ihren Wasserbedarf über Oberfläche ihrer Lager beziehen. Die Schadsymptome haben sich seit der letzten Bonitur bei der Blasenflechte (links auf der Tafel) bis auf die beiden vorgeschädigten Lager nicht weiter verstärkt: die Immissionsbelastung scheint in der letzten Periode auf niedrigem Niveau gelegen zu haben. Unsere Messungen der Ammoniakkonzentrationen belegen dies zumindest für dieses Schadgas. Wir beobachten weiter.

Flechtenexpositionstafel

11.06.2021: Diese Aufnahme wurde fast genau 1 Jahr seit dem Beginn der Exposition gemacht. Die übliche, in der VDI 3957, Bl. 21 genannte Expositionsdauer ist damit erreicht. Der Zustand der meisten Flechtenlager hat sich auch nach der letzten Aufnahme kaum verändert. Die beiden vorgeschädigten Lager der Blasenflechte links im Bild sind mittlerweile abgestorben. Von dem Lager ganz links übriggeblieben ist lediglich ein Fragment, dass auf der Holztafel angewachsen ist und möglicherweise dort bessere Bedingungen vorfindet. Die anderen Lager der Blasenflechte weisen keine bis nur leichte Schädigungen auf (5%-10% Flächenanteil). Ein Lager ist mit ca. 30% etwas stärker geschädigt. Die Lager der insgesamt weniger empfindlichen Schüsselflechte auf der rechten Hälfte der Tafel sind fast vollkommen vital. Auch sie überwachsen langsam den Rand der Borkenstücke, mit denen sie von ihrem Herkunftsort - einer Linde bei Dannenberg (Ostniedersachsen) - entnommen und auf die Tafel geklebt wurden. Zahlreiche sehr junge Lager (Durchmesser > 1mm) der Blasenflechte scheinen die Holztafel ebenfalls neu zu besiedeln. Sie stammen vermutlich aus den körnigen Vermehrungsorganen (Soredien) der älteren Lager und konnten sich unter den günstigen kühlfeuchten Witterungsbedingungen und der offensichtlich niedrigen Immissionsbelastung der Vormonate auf der rauen Oberfläche des Holzbrettes ansiedeln.

Wie gering die Belastung hier im Botanischen Garten Oldenburg ist und ob die Immissionssituation "coronabedingt" eine Ausnahmeerscheinung war, sollen weitere Fotodokumentationen an dieser Stelle zeigen. Die Zeitintervalle werden sich an der Geschwindigkeit der Entwicklung orientieren - möglicherweise also länger sein, als im ersten Expositionsjahr. Voraussetzung ist, dass die geklebten Borkenstücke weiter halten.

Flechtenexpositionstafel

9.8.2021: Ich hatte nach dem moderaten Schädigungsverlauf im ersten Expositionsjahr mit deutlich längeren Intervallen zwischen den Dokumentationen gerechnet. Bereits der zweite monatliche Kontrollgang war allerdings ausreichend Anlass für die nächste Bonitur.

Die Aufnahme oben zeigt bei 5 von 7 Exponaten der Blasenflechte (linke Seite der Tafel) zum Teil sehr starke Schädigungen. An den beiden anderen Lagern sind nur moderate bis keine erkennbaren Symptome erkennbar - interessanter- oder bezeichnenderweise die zuvor vitalsten Lager!

Die rasch fortschreitenden Schädigungen deuteten sich bereits 2 Wochen zuvor an: Es handelt sich eindeutig um Fraßschäden, vermutlich von Gehäuseschnecken. Das die vorgeschädigten Lager besonders gern gefressen werden, hängt vermutlich mit den hier reduzierten oder bereits fehlenden Inhaltsstoffen (z.B. organische Säuren, Phenole) zusammen, welche ebendies zum Schutz der Flechte verhindern sollen. Günstige, feucht-warme Wetterlagen für Schnecken und andere kleine Pflanzenfresser der letzten Wochen machten dann diesen Lagern den Garaus. Die vitalen Lager der Schüsselflechte rechts blieben von der Attacke bislang vollkommen unbehelligt.

Besonders interessant ist dieses Phänomen, weil es vielleicht ein lange ungeklärtes Rätsel löst: Der Rückgang der in der Natur an Baumstämmen vorkommenden Blasenflechte sowie anderer extrem Ammoniak-empfindlicher Arten vollzog sich in der Vergangenheit an einigen Beobachtungspunkten zwischen den Kontrollterminen ebenfalls fast sprunghaft. In diesen zumeist längeren Zeiträumen war jedoch keine markant gestiegen Immissionsbelastungen nachweisbar. Tatsächlich zählte zu den wenigen Übriggebliebenen oft die Schüsselflechte neben anderen NH3-toleranten Arten, vereinzelt waren noch abgeraspelte Lagerspuren der Blasenflechte erkennbar. Daher tendiere ich dazu, auch diese Fraßschäden als "sekundäre" Immissionsschäden zu deuten. Das heißt: Nach etwa 14 monatiger Exposition weisen die Lager der Blasenflechte somit einen mittleren Schädigungsgrad von ca. 40 % auf. Dabei sind natürlich die beiden vorgeschädigten, mittlerweile fast verschwundenen Flechtenlager, nicht berücksichtigt.

Flechtenexpositionstafel

7.10.2021: Die Blasenflechte ist nun nach etwas mehr als 15-monatiger Expositionszeit bis auf ein stark geschädigtes Restexemplar (linke Hälfte der Tafel, 2. Borkenstück von rechts unten) verschwunden. Bei den anderen verbliebenen Lagern handelt es sich nur noch um die Schüsselflechte. Auch ihre auf der rechten Seite der Tafel separat exponierten großen Lager sind nahezu ungeschädigt. Das Absterben der Blasenflechte hatten wir aufgrund ihrer Empfindlichkeit gegenüber Ammoniak (NH3) zwar erwartet, dass es sich in den letzten Wochen so schnell vollzog, überrascht allerdings schon ein wenig. An den natürlichen Standorten beider Flechtenarten in der Stadt und Umgebung (am Stamm v.a. von Eichen) hat sich die Blasenflechte in den letzten 2 Jahrzehnten ebenfalls weitgehend zurückgezogen. Die Landwirtschaft als Hauptquelle aber auch der Straßenverkehr haben mit ihren NH3-Emissionen wesentlich hierzu beigetragen. Die neben der Tafel gemessenen NH3-Konzentrationen (ca. 3 µg pro Kubikmeter im Jahresmittel) betragen etwa das Doppelte der für diese Art verträglichen NH3-Belastung. Die auch andernorts noch häufige Schüsselflechte kommt offenkundig auch auf der Exposititonstafel mit der Immissionssituation zurecht. Mit diesen Ergebnissen finden bereits an anderer Stelle im Oldenburger Land durchgeführte Expositionsversuche zur NH3-Empfindlichkeit ihre Bestätigung. Die Blasenflechte gilt daher als ausgezeichneter "Bioindikator" für Ammoniak. Finden sich vitale Vorkommen dieser relativ leicht zu erkennenden Art, ist von einer niedrigen NH3-Belastung auszugehen. Diese Bedingungen sind allerdings erst in großer Entfernung von Oldenburg anzutreffen. Damit ist der Expositionsversuch im Botanischen Garten abgeschlossen.